In Mitteleuropa ebbt die Corona-Krise langsam ab und es stellt sich wieder ein Gefühl der Normalität ein. Die letzten Wochen und Monate haben jedoch Spuren in unserem Gedächtnis hinterlassen. Wie sich die Pandemie auf Intimität und Sexualität auswirkt, hat die Soziologin und Sexualpädagogin Barbara Rothmüller in ihrer Studie „Liebe, Intimität und Sexualität in der COVID-19-Pandemie“ untersucht. Anlässlich des Pride Months stellen wir euch die vorliegenden Ergebnisse zu queerer Sexualität und Lebensweise vor und richten dabei auch einen Blick auf queere Communities.
Weniger Sex während der Pandemie
Aufgrund von Kontaktreduktion und Ausgangsbeschränkungen musste das Sexleben stark reduziert, wenn nicht sogar komplett stillgelegt werden. Diese Veränderung zeichnet sich in der Mehrheitsgesellschaft ab und ist noch stärker in der queeren Community zu erkennen. Die vorliegenden Daten zeigen:
„Homo-, bi- und pansexuelle Männer sowie kinky und queere Männer haben fast doppelt so häufig ihre sexuellen Kontakte in der Pandemie reduziert als heterosexuelle Männer: 45% hatten seltener Kontakt zu aktuellen Sexpartner*innen als vor dem Lockdown, bei heterosexuellen Männern waren es 26%“.
Unterschiede lassen sich aber auch zwischen den Geschlechtern feststellen. So hat ein Drittel der befragten queeren Männer* in der Pandemie eine Einladung zu Sex abgelehnt, während es bei den queeren, lesbischen und bisexuellen Frauen* jede siebente war, so die Wissenschaftlerin.
Auch über Beziehungskonstellationen queerer Menschen hat die Studie Daten vorliegen. Diejenigen Befragten, die sich als queer identifizieren und an der Studie teilgenommenen haben, leben öfter in komplexen Beziehungsarrangements, wie offenen oder polyamoren Beziehungen oder haben unverbindliche sexuelle Kontakte. Auf diese Personengruppen wirkt sich die Kontaktminimierung besonders stark aus:
- 40% haben sich zu Partner*innen physisch distanziert, die nicht im selben Haushalt leben
- Jede*r Fünfte hatte nur physischen Kontakt mit denjenigen Beziehungspersonen, mit denen sie einen Haushalt teilen
Dating in Gefahr
Neue Menschen und potenzielle (Sex-)Partner*innen kennen zu lernen, galt in dieser Zeit als besonders schweres Unterfangen. Dass Dating nur sehr eingeschränkt und unter erschwerten Bedingungen möglich war, macht sich auch in der Studie bemerkbar: 41% der Befragten sind deshalb mit ihrem Liebesleben unzufrieden und auch die Nutzung von Dating-Apps ging – wider vieler Erwartungen – zurück.
„Fast jede*r Fünfte pausierte sein Onlinedating zur Zeit der Kontaktbeschränkungen“, sagt Sexualpädagogin Rothmüller
Die eigene sexuelle Community
Auch der Kontakt zur eigenen Community litt unter dem Lockdown. Menschen minimierten den sozialen Kontakt zu anderen aus der Community. Am häufigsten hatten dennoch queere Personen und Personen aus der BDSM-Community Kontakt zu anderen gehabt, so die vorliegende Studie. Asexuelle Personen hatten kaum Kontakt zu anderen Personen aus sexuellen Communities, „vergleichbar selten wie heterosexuelle Menschen“.
„Von den befragten Personen mit asexueller Identität war die Hälfte erleichtert, dass in der Pandemie niemand von ihnen erwartete, ein aktives Sexleben zu führen.“
Der Kontakt zur eigenen queeren, sexuellen Community wirkt sich durchwegs positiv auf das eigene Wohlbefinden aus. Menschen, die während der Pandemie Kontakt zu ihren queeren Communities hatten, fühlen sich weniger einsam als die ohne Kontakt.
Cybersexualität: eine Alternative
Das Internet verschafft eine große Erleichterung beim Ausleben der eigenen Sexualität. In der medialen Berichterstattung taucht der Begriff „Cybersexualität“ immer wieder auf. Er bezeichnet den Austausch sexueller Inhalte via digitaler Medien – per Video, Foto oder Text wird Sexualität ohne Körperkontakt gelebt. Menschen, die sich als queer identifizieren, lebten ihre Sexualität häufiger digital aus als die Mehrheitsgesellschaft, so Rothmüller.
Und auch in Sachen digitaler Sicherheit wissen queere Menschen besser Bescheid: sie verwenden häufiger Sicherheitsvorkehrungen bei Cybersex als heterosexuelle Befragte. Dabei zeigten sie beispielsweise nicht ihr Gesicht bei Videoaufnahmen, hielten Name und Aufenthaltsort geheim oder verwendeten Programme mit end-to-end Verschlüsselung. Optimistisch stimmt, dass
„… in sexuellen Communities, vor allem bei queeren, bi/pansexuellen Personen sowie in der BDSM-Community, viel Wissen zur sicheren Nutzung digitaler Plattformen für sexuelle Aktivitäten vorhanden ist, die in der Mehrheitsgesellschaft teilweise fehlen bzw. bei Cybersex nicht berücksichtigt werden.“
Zur Studie
Vom 1. bis 30. April 2020 nahmen über 8000 Personen ab 14 Jahren an der online Studie teil. 4700 Befragte aus Deutschland und Österreich haben den Fragebogen vollständig ausgefüllt. Die große Anzahl an queeren Studienteilnehmer*innen ist dabei besonders erfreulich. Auch wenn die Erhebung nicht repräsentativ ist, „lassen sich in der Studie differenzierte Aussagen über das Erleben von Intimität und sozialer Verbundenheit sexueller Minderheiten in der Pandemie treffen“, so die Sozialwissenschaftlerin Rothmüller.
Barbara Rothmüller – Soziologin, Universitätslektorin, Sexualpädagogin
Die Studie „Liebe, Intimität und Sexualität in der COVID-19-Pandemie“ ist in Zusammenarbeit mit der Sigmund Freud Privatuniversität Wien und dem Kinsey Institute for Research on Sex, Gender and Reproduction der Indiana University, US, entstanden.
http://barbararothmueller.net/
barbara.rothmueller@sfu.ac.at