Die polnischen Aktivist*innen von Ciocia Wienia im Interview: radikale Unterstützung bei Abtreibungen in Österreich

Da Abtreibungen in Polen beinahe unmöglich sind, formiert sich in Europa – aktuell und seit vielen Jahren – feministischer Widerstand. Ungewollt Schwangere werden dabei unterstützt, die Versorgung zu bekommen, die sie brauchen. Die Aktivist*innen von Ciocia Wienia machen genau das: Sie helfen Personen in Polen und anderen Ländern, wo der Zugang zu Abtreibungen erschwert oder unmöglich ist. Im Interview mit PurPurr erzählt das Kollektiv, wie ihre Arbeit konkret aussieht, welche Erschwernisse die COVID-19-Pandemie mit sich bringt und wie reproduktive Gerechtigkeit in einer idealen Welt gelebt werden kann.

Ihr helft ungewollt Schwangeren, die dort wo sie wohnen, nicht die Versorgung bekommen, die sie brauchen. Wie sieht eure Unterstützung in Wien konkret aus?

Unser Aktivismus ist sehr praktisch orientiert. Wir unterstützen Menschen aus Polen und anderen Ländern, in denen der Zugang zu einem Schwangerschaftsabbruch schwierig oder unmöglich ist, bei der Organisation eines Eingriffs in Wien. Wir informieren über reproduktive Rechte und mögliche Formen des Schwangerschaftsabbruchs in Österreich, aber auch über mögliche Optionen in den jeweiligen Ländern. Wir raten all jenen, die unter der 12. Woche sind, Pillen für einen medikamentösen Abbruch bei Women help Women in Betracht zu ziehen und den Eingriff zu Hause, mit unserer virtuellen Unterstützung, durchzuführen.

Warum ist das eine gute Option in euren Augen?

Aufgrund der aktuellen Lockdowns und Reisebeschränkungen ist diese Option sehr wichtig. In Polen wird nur die Hilfe bei Abtreibung kriminalisiert, und nicht die Person, die eine Abtreibung vornimmt. Also bleibt das eine wichtige Möglichkeit. Und es ist viel einfacher und billiger, als für eine Abtreibung ins Ausland zu reisen: Wenn Pillen über Women help Women bestellt werden, wird um eine Spende von 75 Euro gebeten. Zum Vergleich: eine medizinische Abtreibung in Wien kostet mindestens 530 Euro. Dass über 80% der Abtreibungen, die derzeit in Polen durchgeführt werden, zu Hause passieren, ist kein Wunder. Es gibt aber Situationen, in denen das nicht möglich ist – z.B. wenn die Schwangerschaft zu weit fortgeschritten ist oder es medizinische Gründe gibt, die gegen einen Abbruch mit Tabletten sprechen.

Und in allen anderen Fällen, wie helft ihr ungewollt Schwangeren, die für einen Abbruch nach Österreich kommen?

Wir bieten allumfassende Hilfe bei der Organisation der Reise, der Unterkunft, der Durchführung des Abbruchs und der Übersetzung an. Das bedeutet, dass wir Termine in der Klinik vereinbaren, (falls nötig) Zugtickets kaufen und die Person vom Bahnhof abholen. Außerdem gehen wir mit der Person in die Klinik und bringen sie bei uns privat unter. Finanzielle Unterstützung ist natürlich ein großer Teil unseres praktischen Aktivismus – Abtreibung in Österreich ist teuer und das nicht nur für Menschen, die aus Polen anreisen. Für viele stellt der Preis eine große Hürde im Zugang zum Eingriff dar – wie die Arbeit unserer Kolleg*innen von Changes for Women zeigt. Sie helfen finanziell in Österreich jenen, die sich eine Abtreibung nicht leisten können. Und auch die COVID-19-Pandemie führt zu Armut. Viele können sich eine Abtreibung einfach nicht leisten.

Ihr habt Corona schon angesprochen. Wie stark beeinflusst die Pandemie eure Arbeit?

Covid bedeutet eine Menge zusätzliche bürokratische Arbeit, wenn man für eine Abtreibung in ein anderes Land muss – sowohl für die Person, die nach Wien kommt, als auch für uns. Die Klinik, mit der wir zusammenarbeiten, ist eine große Hilfe – sie stellen eine Bestätigung aus, dass eine Person für einen medizinischen Eingriff kommt. Das befreit sie und ihre Begleitperson von einer Quarantäne in Österreich. Dass sie bei der Durchreise durch Tschechien einen negativen Covid-Test mithaben und das Formular für die Reisefreigabe ausfüllen, ist trotzdem notwendig. Wir helfen dabei und bei der Terminvereinbarung für die Tests in Wien. Manchmal begleiten wir sie auch und wir testen uns gemeinsam und träumen von einem Leben ohne Covid.

In Polen gilt seit Jänner 2021 ein nahezu totales Abtreibungsverbot. Wie ist die Lage für ungewollt Schwangere in Polen seit Inkrafttreten des Gesetzes?

Der im Januar eingebrachte Gesetzentwurf verbietet Abtreibungen bei fetalen Missbildungen. Neben Fällen von Vergewaltigung und Gefahr für das Leben und die Gesundheit der Schwangeren, war das bisher eine der drei Ausnahmen, in denen ein Eingriff in Polen seit 1993 nicht illegal war. Bis Jänner 2021 machten Schwangerschaftsabbrüche, bei denen der Fötus missgebildet war, etwa 95% der Abtreibungen im Land aus. Das entspricht einer Schätzung nach ca. 1000 Eingriffe pro Jahr. Die Tatsache, dass dieses Gesetz in Kraft trat, war ein Schock, aber eigentlich haben wir den Unterschied schon im Oktober gespürt. Am 22.10.2020 wurde das Urteil verkündet und wurde auch tatsächlich Realität. Unmittelbar danach sagten viele Krankenhäuser Eingriffe ab und schickten alle, die für einen Abbruch vorgesehen waren, nach Hause. Und das, obwohl diese Art des Schwangerschaftsabbruchs immer noch legal war. Seitdem suchen viele Menschen im zweiten Trimester nach anderen Möglichkeiten und gehen ins Ausland, um ihre Schwangerschaften zu beenden.  

Die Veränderungen waren also gleich spürbar?

Ja, in den letzten drei Monaten ist die überwiegende Mehrheit derjenigen, die sich bei uns melden und für einen Eingriff nach Wien kommen, nach der 12. Woche schwanger. Sie kommen, weil eine mögliche medizinische Indikation vorliegt. Das ist genau der Moment, in dem man in Polen die ersten Ergebnisse der pränatalen Tests bekommt, und wir sehen, dass diese erste Indikation ausreicht. Leute entscheiden sich dann, die Schwangerschaft abzubrechen und auf weitere Tests zu verzichten. Im Moment ist es wirklich beängstigend, in Polen schwanger zu sein. 

Die Gesetzeslage rund um Abtreibungen ist in den europäischen Ländern sehr unterschiedlich geregelt. Wo kann wie lang eine Schwangerschaft beendet werden?

Genau, die Abtreibungsgesetzgebungen in diesen Ländern sind sehr unterschiedlich. In Deutschland wie in Österreich ist Abtreibung bis zur 14. Woche möglich. In den Niederlanden bis zur 22. Woche, Großbritannien erlaubt den Abbruch bis zur 24. Wer später mit einer medizinischen Indikation abbricht, kann nach Belgien und Spanien reisen. Wenn auch nicht in Polen – Menschen haben immer noch Optionen und ein Netzwerk der Unterstützung, die Abtreibungen möglich machen.

Es gibt also vor Ort Gruppen wie euch, die ungewollt Schwangere dabei unterstützen, die Versorgung zu bekommen, die sie benötigen?

Genau. Uns, Ciocia Wienia, gibt es seit September letzten Jahres. Wir haben unsere Gründung noch vor dem Urteil des Tribunals offiziell bekannt gegeben. Aber wir sind keineswegs die einzige Abtreibungsunterstützungsgruppe, die Menschen aus Polen hilft, Zugang zu Eingriffen im Ausland zu bekommen. Es gibt Kollektive, die das seit Jahren tun, wie Ciocia Basia in Berlin, Abortion Network Amsterdam in den Niederlanden, Abortion Support Network in Großbritannien, und viele neue Gruppen, die seit Oktober gegründet wurden.

Wir kennen alle die Bilder: Hunderttausende Menschen protestieren in Warschau und anderen großen Städten gegen das Abtreibungsverbot. Wie hat es die feministische Bewegung in Polen geschafft, so viele Menschen auf die Straße zu bringen?

Das Ausmaß der Proteste war in der Tat massiv und das ist wirklich bewegend. Es wurde schon oft gesagt, dass dies die größte Protestbewegung seit 1989 war. Sie zog sich durch alle Schichten der polnischen Gesellschaft, alle sozialen und Altersgruppen. Und sie war nicht auf die großen urbanen Zentren beschränkt, sondern entfaltete sich auch in kleinen Städten und ländlichen Gebieten. In diesem Sinne ist er wirklich beispiellos. In den meisten Fällen nahmen die Proteste die Form von Massendemonstrationen an, die praktisch jeden Tag stattfanden und manchmal über 100.000 Menschen versammelten, wie es in Warschau der Fall war. Aber sie nahmen auch die Form kleinerer Guerilla-Aktionen an, die in den Städten durchgeführt wurden. Protestierende beklebten Wände und Bänke mit Aufklebern, die über den Zugang zu medizinischer Abtreibung informierten. Darüber, wo man Pillen bestellen und wie man sie einnehmen kann, oder über Abtreibungsunterstützungsgruppen im Ausland. Die Menschen gingen damit auf die Straße, um ihre Wut über die Regierung und das unmenschliche Anti-Abtreibungsgesetz auszudrücken.

Das heißt, die Wut hat die Menschen bewegt, auf die Straßen zu gehen?

Ja, aber da war noch mehr. Inmitten all der Wut und Angst, die die Situation hervorgerufen hat, gingen die Demonstrant*innen in Polen auch auf die Straße, um eine Botschaft der Hoffnung und des Widerstands zu vermitteln: Politiker*innen und Gesetzgeber*innen mögen Abtreibung in Polen verbieten, aber sie wird immer noch möglich sein – ruft einfach die Nummer von Abtreibungsgruppen an und ihr werdet praktische Unterstützung bekommen.

Was die Menschen auf der Straße schrien, ist, dass sie sich ihre reproduktiven Rechte zurückholen, unabhängig von der unmenschlichen Gesetzgebung. Viele haben die Lektion von den Protesten gelernt, die früher in diesem Jahr von Queer-Aktivist*innen in Polen durchgeführt wurden: Angesichts solch schwerer Verletzungen von Bürger*innen- und Menschenrechten gibt es keinen Raum für Dialog oder Verhandlungen, wenn es um das körperliche Selbstbestimmungsrecht anderer geht. Es musste deutlich gemacht werden: Genug ist genug. Aber auch, dass wir aufeinander zählen können.

Stellen wir uns eine ideale Welt vor: wie würde die Versorgung einer Person aussehen, die ungewollt schwanger ist?

In einer idealen Welt wäre Abtreibung vollständig entkriminalisiert, kostenlos und vor Ort verfügbar, wo sie gebraucht wird. Aber in dieser idealen Welt hätten die Menschen auch Zugang zum gesamten Spektrum der reproduktiven Rechte: zu Verhütung, Notfallverhütung, Sterilisation und anonymer Geburt. In unserem Aktivismus geht es auch darum, Menschen aus Polen beim Zugang zu dieser Form der Versorgung zu unterstützen. Es ist praktisch unmöglich in Polen, anonym zu gebären. In Österreich und Frankreich ist das anders. Natürlich sehen wir die anonyme Geburt nicht als Alternative zur Abtreibung. Aber wir wurden von Menschen kontaktiert, die aus verschiedenen Gründen das Bedürfnis hatten, anonym zu gebären. Auch in diesem Fall boten wir allumfassende Unterstützung an, machten Termine, übersetzten im Krankenhaus und stellen unsere Wohnungen zum Übernachten zur Verfügung.

Mit anderen Worten: Die ideale Welt ist eine Welt, in der eine Person in jeder Phase des Prozesses eine autonome reproduktive Entscheidung treffen kann, ohne ein Stigma fürchten zu müssen, ohne allein zu sein.

Ciocia Wienia arbeiten ehrenamtlich und sind zu 100% auf Spenden angewiesen. Wie die Aktivist*innen bei einem gewollten Abbruch unterstützen und welche Möglichkeiten es gibt, findet ihr auf ihrer Homepage, ihrer Facebook-Seite und ihrem Instagram-Kanal. Die Spendenkampagne auf Gofundme freut sich über jeden Euro – so können Ciocia Wienia ungewollt Schwangere auch finanziell unterstützen.

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Sophie

Ausgebildete Sexualpädagogin, Studium der Gender Studies. Sophie beschäftigt sich mit Themen wie Bodyimage, Sex und Geschlechtergleichstellung.

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